Bernd Volkert, Berlin, Januar 2013
KEIN WARTEN. KEIN GODOT.
Einige Anmerkungen zu den
frühen Stücken Thomas Mauls
VIEL LÄRM IM NICHTS
Wer braucht heute noch Theater? Zum Zeittotschlagen
gibt es Multiplexkinos, jetzt auch mit 3D-Effekt, Home Cinema, Reality-TV,
Fanmeilen, Comedy, eine Serie nach der anderen, etc. pp. Als Aufklärungsanstalt
ist es mangels Nachfrage auch nicht zu verwenden. Ausgewichen wird aufs
Tanztheater, Spektakel, Multimediaaufführungen. Man versucht eben mitzuhalten.
Eine halbwegs sichere Bank sind da noch die sogenannten Klassiker, die auf den
großen Bühnen und in den Theatern in der Provinz immer noch rauf und runter
gespielt werden, na ja, wohl eher runter. Neue Autoren passen da nicht ins
Konzept, zumal solche, die sich nicht bemühen, up to date zu sein. Ohnehin
scheint das Theater der Moderne – wenigstens als Drama – immanent an einen
Endpunkt geraten zu sein. Nach Beckett nichts. Was soll man auch inszenieren in
einer Zeit, die jenseits des Dramas und der Utopie ist, in der nichts mehr zu
erreichen ist, in der höchstens noch die Restbestände einer zumindest als Idee
einmal existierenden bürgerlichen Welt gegen atavistische Angriffe oder die in
Permanenz wiederkehrende Krise verteidigt werden, auch das aber ohne große
Emphase. Niemand in Aussicht, der an den Schlaf der Welt rühren könnte. Bleibt
als Möglichkeit, diesen Stillstand einfach abzubilden. Oder ihn mit den Mitteln
der Komödie und Groteske der wohlverdienten Absurdität zu überführen. Das ist
in etwa, was Thomas Maul in seinen frühen Theaterstücken Windspiel oder Die Nase des Rauchers und Sarahs Rache macht, die seit 2003 beziehungsweise 2005 ihrer
Uraufführung harren, jedoch nunmehr wenigstens einem Lesepublikum vorliegen.
Diese Form ist den sich vom Zeitgeist fernhaltenden Stücken wohl auch
angemessen, sind sie so doch auf die Renaissance der einstmals
selbstverständlichen und verbreiteten Methode angewiesen, sich Dramen erst
einmal durch Lektüre anzueignen, bevor sie einem – Stichwort: Regietheater – in
recht willkürlicher Interpretation auf der Bühne präsentiert werden.
Mauls
Dramatik findet also in einer Zeit statt, in der das Drama unmöglich und der Mensch
antiquiert scheinen. Nach der x-ten technischen Revolution sind die
menschlichen Verhältnisse von der Überflüssigkeit der Gattung geprägt, die sie
selbst herbeigeführt hat. Die Menschen wandeln ohne Lust, wie nicht zugehörig
und fremd durch die von ihnen produzierte Landschaft, sehen sich in Wahrheit
nicht ein noch aus und begeben sich in der Folge willig in eine dauernde
Beschäftigungstherapie, die nun mit den neuesten Gadgets auch beinahe
unbegrenzte Illusionen der Individualität zulässt. Schöne neue Welt. Windspiel und Sarahs Rache brauchen keine Handys, Facebook, Tweets etc., um die
wortreiche Nicht-Kommunikation der asozialisierten Menschen darzustellen, die
miteinander umgehen, als ob ein mysteriöses Schicksal sie von irgendwoher auf
diesen Planeten erst zusammengeworfen hätte. Besser vielleicht noch die
Metapher vom Swedenborg-Raum: Nicht mehr im Leben und noch nicht im Tod irren
die Menschen ohne Ziel und Plan durch den Tag. Wunschloses Unglück. Der Tod
einer Nachbarin, die Verstümmelungen und Selbstverstümmelungen, ökologische
Desaster – all die Dinge, die vielleicht vor Jahrzehnten noch für Empörung,
zumindest für Aufsehen gesorgt hätten, lassen sie seltsam kalt. Die Menschen
abgestumpft zu nennen, wäre schon falsch – dafür müsste zumindest noch die
Andeutung einer vorherigen Charaktergestalt zu finden sein, die sich an der
Welt kaputt gestoßen hätte. Da ist aber nichts. Sie wirken durch und durch so,
als ob sie schon so früh vergreist geboren worden wären und seither keine
Geschichte erlebt oder erfahren hätten. Sie scheinen nur darauf zu warten,
endlich den Schnitter Tod in kraftloser Freude willkommen heißen zu können.
WINDSPIEL ODER DIE NASE DES RAUCHERS
Wer Windspiel
liest, wird sich von Anfang an in eine Art beckettsches Szenario versetzt
fühlen. Wir haben erst zwei, später vier Protagonisten, die als solche zu
bezeichnen eher irreführend ist, da dieser Begriff sich ja von Handeln
ableitet. Und handelnd in einem ernsthaften Sinne sind alle vier Personen
nicht. Vielmehr sind sie verleitet, ihre Passivität, ihre
Beschäftigungslosigkeit durch das willkürliche Ausdenken von Tätigkeiten ohne
Sinn zu unterbrechen, deren Ratio alleine darin liegt, dass die vier sich auch
noch ihre Potenz zur Handlungsfähigkeit dezimieren, indem sie sich gegenseitig
Gewalt antun. Selbst das erledigen sie in einer eigenartigen Trägheit und
Lustlosigkeit, die sie das ganze Stück über an den Tag legen. Eine klassische
freudsche Analyse würde sich an ihren Charakteren die Zähne ausbeißen. Selbst
die Verstümmelungen erledigen sie ohne sadistische oder masochistische
Motivation – eine Art Illustration dessen, was nach 1990 Kalter Krieg genannt
werden könnte. Sollten sie noch einen Ich-Panzer haben, würde dessen Aufbrechen
nur den Blick auf eine spurenlose Leere gewähren. Sogar Grünwald, dem
Fotografen, mag man keinen Voyeurismus vorhalten, wenn er freudig erregt seine
Serie von Porträts der Verstümmelten schießt; eher nimmt man es als die Szene
mit den stärksten Anzeichen von so etwas wie Leben wahr.
Auch wenn
Thomas Maul seine Figuren auf groteske Weise vielleicht stärker interagieren
lässt als Beckett, bei dem sie eher beziehungslos nebeneinander existieren,
verbleibt soweit doch alles grob in einer Tradition, zu der neben Ionesco oder
Bernhard vor allem eben Beckett gehört. Wie bei diesen Vertretern des absurden
Theaters erzeugt zwar Mauls Sinn für Verschrobenes und Skurriles immer wieder
auch komische Momente, die den Zuschauer oder Leser auf Distanz zum Geschehen
halten – allerdings ohne ihnen das behagliche Gefühl zuzugestehen, mit dem
Dargestellten nichts zu tun zu haben. Im Unterschied jedoch zu Beckett geht
Maul letztlich noch radikaler vor: Seine Figuren warten nicht einmal. Und von
einem ominösen Godot, der etwas Neues bringen könnte, haben sie noch nie etwas
gehört. Es gibt nichts in ihrem Bewusstsein, was über den Zustand, Stillstand,
in dem sie sich befinden, hinauswiese. Sie kennen keine Transzendenz, nicht
einmal eine negative: Bemühte man das Bild des Fegefeuers, um die Welt zu
beschreiben, in der sie sind, fühlte man sich gedrängt, es gleich wieder zu
verwerfen, denn sie spürten nicht einmal die Flammen, die zu ihrer Sühne
loderten. Sie kennen kein Leid (und auch kein Mitleid, sei ergänzt). Heißt es
bei Dante noch: „... nichts andres drückt uns, als dass wir hoffnungslos in
Sehnsucht leben“, könnten die Menschen im Windspiel
höchstens sagen: „Nichts drückt uns, Hoffnung nicht und auch nicht Sehnsucht.“
Sie sind verdammt in alle Gegenwart. Entsprechend erfahren wir über sie auch
kaum mehr, als mit ihren Figurenbezeichnungen schon gesagt ist: Raucher,
Zeitungsleser, Friseurin, Fotograf. Sie sind ganz Funktion geworden, Funktion
ohne Zweck und Ziel. Reine Tautologie. „Schweigen. Der Raucher raucht. Der
Zeitungsleser liest.“ (Beim Rauchen und Zeitunglesen handelt es sich zudem um
Beschäftigungen, die gerade aus der Welt getilgt werden.) Ansonsten sind sie
gesichts- und geschichtslos, gefangen in einem leeren Ich.
Windspiel zeigt die
Menschen an einer Art Endpunkt, an dem nach einer langen geschichtlichen Entwicklung
die Welt von ihnen vollständig umgewandelt und ganz und gar angeeignet worden
ist, die dabei aber neue Verhältnisse geschaffen haben, die ihnen vollends aus
den Händen geglitten sind, mit und in denen sie nichts zu schaffen haben – ein
Zustand der größtmöglichen Entfremdung, in der in Zuspitzung dieser bösen
weltgeschichtlichen Ironie sogar alles verloren und vergessen scheint, worauf
eine Aufhebung der Entfremdung zielen und bauen könnte. Aber Windspiel ist noch mehr, ist noch
dystopischer, falls man das so nennen will. Eine Welt, in der man keine Angst
mehr haben muss – war das einmal die Beschreibung eines utopischen Zustands,
dann haben wir in Windspiel die
Perversion davon: Die Menschen fürchten sich vor nichts mehr, schier nichts
kann ihnen noch Angst einjagen. Selbst der Tod, der vermutlich die alte Frau
schon lange ereilt hat, über die sie reden, ist ihnen nicht mehr als eine
Randnotiz. Sollte er eines Tages zu ihnen kommen, wird ein Wittig wohl kaum
mehr zu sagen haben als sein „Am Ende verliert man immer. Das Leben ist mäßig“
und sonst ungerührt geschehen lassen, was eben geschieht – wie er ja auch am
Ende, nachdem immerhin eine ihm gut bekannte Person ihr Augenlicht, eine andere
ihr Gehör verloren hat (und das mit seiner Einwirkung), dasitzt wie am Anfang
und immer noch tatenlos meint: „Ich halte es nicht aus. Ich rauche.“
SARAHS RACHE
Trau, schau, wem. Kein Vergeben, kein Vergessen.
Vergangenheit, die nicht vergeht. Drum prüfe, wer sich bindet. Enemy mine.
Vertrauter Feind. Die Hoffnung stirbt zuletzt – aber sie stirbt. Pacta sunt
servanda. Hilf dir selbst. Es ist kein Gott. Es könnte schlimmer sein. Ist es
ja auch. Sterben und sterben lassen. Blood money. Schuldkomplex. Verträge und
Brüche. Einsam geht die Welt zugrunde.
Sarahs
Rache wirkt auf den ersten Blick geradezu antithetisch
zum Windspiel. Wo dieses handlungsarm
und minimalistisch daherkommt, scheint Sarahs
Rache mit Handlung und Action sowie zahlreichen Anspielungen und Verweisen
(immer wieder Shakespeare und die Bibel) beinahe überfrachtet. Auch das
Zusammenspiel von Komischem und Abgründigem funktioniert hier eher umgekehrt.
Vordergründig und formal ein Lustspiel, das – sieht man von den grotesken
Inhalten ab – in Sachen Tempo, Leichtigkeit und Schlagfertigkeit den Vergleich mit
klassischem Screwball nicht zu scheuen braucht, kommt doch im Verlauf des
komischen Geschehens wie bei Kleists Zerbrochenem
Krug – um ein etwas älteres Beispiel zu wählen – immer mehr zu Tage, was
nicht wirklich zum Lachen ist. Am Ende wird zwar Hiob ben Israel, die
Hauptfigur, nicht nur mit dem Leben davongekommen, sondern plötzlich auch reich
geworden sein. Dafür allerdings hat er seine Frau verloren, die ihm und dem
Leben unter Menschen offenbar innerlich schon lange entsagt hatte und ja auch
aus nekrophiler Liebe zur Mehrfachmörderin wird. Den Rest der Personage trifft
es härter noch: fast alle – wie bei Titus Andronicus – tot zum Schluss,
vergiftet, dabei nur um die Erkenntnis reicher sterbend, auch noch von den
engsten Angetrauten betrogen worden zu sein. Ein Happy End sieht anders aus. The world is a lonely
place. Und:
Jeder ist sich selbst der Nächste – aber möchte man wirklich so jemandem nahe
sein? Wie beim Windspiel sind die
Figuren auch in Sarahs Rache bar
jeder Hoffnung und Vorstellung, es könne doch auch alles ganz anders sein.
Weiter als über den nächsten Vorteil hinaus können sie nicht denken und
handeln. Tun sie‘s doch oder verspüren sie wenigstens den Drang dazu, reicht es
nicht zu mehr als Sarahs Flucht – über Leichen – in eine ersponnene hoch
privatistische und egoistische Fantasie.
Überhaupt
wirken auch das sonstige Geschehen und die Figuren in Sarahs Rache ein wenig wie aus einer Traumwelt, oder besser: wie
aus einer untergegangenen Zeit. Die Gangster und Ex-Gangster im Stück sind abgehalfterte
Typen, beinahe wie die Mafiosi in Jim Jarmuschs Ghost Dog, die auf dem Weg zum Auftragsmord zwischendurch im
Treppenhaus Halt zum Luftholen machen müssen. Auch Bestattungsunternehmen
werden heute sicherlich nicht mehr von so gemütlichen Kleingewerbetreibenden
wie Hiob ben Israel – wohl nicht zufällig ein sehr archaischer Name – geleitet.
Jedenfalls benutzen sie mittlerweile wie die ganze Welt schnurlose Telefone.
Und diese Art von Gangsterehre, wie sie Maul mit dem Geld-oder-Herz-Deal aus Der Kaufmann von Venedig übernommen hat,
existiert vermutlich nicht mal mehr in den übelsten Yakuza-Banden.
Es ist wohl diese Unzeitgemäßheit des Stücks, das
gewissermaßen in einer fiktiven Vergangenheit spielt, die es dem Autor erlaubt,
den Charakteren doch etwas mehr Leben, Emotion und auch Traurigkeit zu
verleihen als im – vergleichsweise – Gegenwartsstück Die Nase des Rauchers, dessen Figuren in einem emphatischen Sinn
alles Menschliche fremd ist. Die Welt von Sarahs
Rache, auch wenn das wohl ein Zufall ist, gleicht sehr derjenigen, die von
den Coen-Brüdern in ihrem Film A Serious
Man gezeichnet worden ist (der in den 1960ern spielt), und noch mehr der
Atmosphäre, die in den Kurzgeschichten von Ethan Coen erzeugt wird, die er in
den 1990er Jahren veröffentlicht hat (gesammelt in Gates of Eden) und die damals schon von einer traurigen Nostalgie
durchzogen waren. Unwillkürlich hat es Thomas Maul vielleicht also in die
Sparte ‚jüdischer Humor des ausgehenden 20. Jahrhunderts‘ verschlagen, womit
ihn jedenfalls auch die Unterhaltsamkeit und Kurzweil von Sarahs Rache verbindet – bei aller sarkastischen, gar
pessimistischen Grundlage des Stücks: Vom Ende her erweist sich alles Handeln
(im Guten wie im Schlechten) als vergeblich (Hiob/Sarah) und auch der Trotz
gegen den Tod – Evas stetiges Wiedererwachen – kommt mangels Liebe (in dem Fall
derjenigen Adams) zum endgültigen Erliegen.
THEATER AUS DEM OFF
Keine angenehme Welt also, die in den beiden Stücken
dargestellt wird. Doch besteht ihre Stärke nicht nur darin, dass sie sich mit
den menschlichen Verhältnissen, wie sie sind, nicht gemein machen, sondern
dabei auf den Gestus der Empörung ebenso verzichten wie auf sozialen Kitsch –
also auch das Genre politisch engagierter Kunst nicht bedienen und damit ein
vermeintlich kritisches Publikum enttäuschen, das so gerne gute Menschen an der
ach so bösen Welt scheitern sieht, um sich selbst besser zu fühlen und
überhaupt erst sympathisch zu werden. Die Kultur des Narzissmus im Zeitalter
schwindender Erwartungen, die Christopher Lasch schon in den 1970er Jahren
diagnostiziert hatte, feiert seither immer neu und immer schaler Fröhlichkeit
Urständ. Dabei ging den Menschen wohl auch jene Muße verloren, die es ihnen
ermöglichen würde, Bücher nicht als Empfehlungen der Bestsellerlisten zu lesen,
mit denen sie unbedingt Schritt halten müssen, sondern Lektüre als Weg der
Erkenntnis (sowohl der Welt als auch ihrer selbst) zu verstehen. Der darum wohl
auch künftig anzunehmende Misserfolg beider Stücke dürfte wiederum einen Autor
nicht grämen, auf den durchaus zuzutreffen scheint, was einmal als Definition
für einen Kommunisten gegeben wurde: dass er weniger in sich selbst als in die
Welt verliebt ist – wenn auch unglücklich verliebt.
Quelle: Nachwort, in: Thomas Maul, Sarahs Rache,
XS-Verlag, Berlin 2013.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.