Corona und die geistige Umnachtung (nicht nur) der Experten

Über den Verlust an Wirklichkeit im Ausnahmezustand

Die Philosophin Hannah Arendt schrieb einmal: „Die größte Gefahr der Moderne geht nicht von der Anziehungskraft nationalistischer und rassistischer Ideologien aus, sondern von dem Verlust an Wirklichkeit. Wenn der Widerstand durch Wirklichkeit fehlt, dann wird prinzipiell alles möglich.“

Tatsächlich ist im Ausnahmezustand, den wir erleben, seit der Bundestag im März 2020 die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ festgestellt hat, „alles möglich“ geworden. Dabei besteht das Schockierende nicht darin, dass sich der Staat und seine Institutionen zwecks Aufrechterhaltung des autoritären Pandemie-Regimes der Lüge, der Täuschung, des Ausblendens relevanter Fakten bedienen würden. Auch das mag zwar eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Viel frappierender ist allerdings, welch offenkundiger Irrsinn sich immer wieder vor aller Augen vollziehen kann, ohne dass dies Richter und Mainstreamjournalisten auch nur im Geringsten zu interessieren scheint.

RKI und BMG dementieren „epidemische Lage von nationaler Tragweite“

Das Robert-Koch-Institut (RKI) kann verkünden, dass es als „Covid-19-Fall“ (der ursprünglich mit einer schweren Lungenentzündung assoziiert war) jeden Menschen mit einem positiven PCR-Test zählt – und zwar („In Einklang mit den internationalen Standards der WHO und des ECDC“): „unabhängig [!] vom Vorhandensein [!] oder der Ausprägung [!] einer klinischen Symptomatik“. Wiewohl derart der Krankenstand per Aufaddieren von Gesunden (Symptomlosen) und mild Erkrankten (95% der Kontaminierten) künstlich aufgeblasen wird, steht in jedem wöchentlichen Influenzabericht des RKI seit Februar 2020, dass hinsichtlich akuter und schwerer Atemwegserkrankungen sowie entsprechender Hospitalisierungen insgesamt keine Auffälligkeit im Verhältnis zu den Vergleichswochen der Vorjahre festzustellen ist. Eine Einschätzung, die das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) inzwischen für das gesamte Jahr 2020 offiziell bestätigt hat. Das RKI ging sogar noch weiter. Mehrfach (z.B.: hier und hier) ließ es folgendes verlauten: Selbst unter der faktenwidrigen Annahme, jeder positiv Getestete sei symptomatisch, und selbst bei gedanklicher Verdreifachung der Summe aller Positiven (Stichwort Dunkelziffer) bliebe die Corona-Epidemie immer noch „unterm Radar“ der klassischen Instrumente zur Seuchenbeobachtung (RKI-Sentinel) und damit „auf Bevölkerungsebene nicht wahrnehmbar“. Das heißt: Der Bundestag stellt wiederholt eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite fest“ – das nächste Mal am 10. Juni 2021 – und beruft sich dabei auf Behörden, die eben jene Lage in aller Öffentlichkeit dementieren. Und niemand stört sich dran. Vielmehr scheint sich seit Monaten ein nahezu pathologisches Einverständnis einzuspielen, das sich der Kritik durch Vernunft systematisch entzieht.  Offensichtlich haben Regierung und Bevölkerung, Experten, Journalisten und Richter Gefallen an einem Irrsinn gefunden, dem sie sich offen und schamlos hingeben. Jedenfalls wiederholt sich das Muster an allen Fronten.

Evidenz niedrig – Empfehlung hoch: S3-Leitlinie für Schulen

Ein kurioses Dokument ist die „S3-Leitlinie: Maßnahmen zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV  -2-Übertragung in Schulen“. Hierbei handelt es sich um so etwas wie die wissenschaftliche Fundierung sämtlicher Maßnahmen, mit denen Schüler im Zeichen der Pandemie traktiert wurden. Mitgewirkt an dieser Leitlinie haben neben dem RKI etliche Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi), Deutsche Gesellschaft für Public Health (DGPH), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), Deutsche Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (DGPI). Eine geballte Ladung an Kompetenz und Expertise hatte sich hier vorgenommen, in Abwägung von Nutzen und möglichen Schäden der Maßnahmen konsensbasierte Empfehlungen verschiedenen Grades auszusprechen. Dem Nutzen etwaiger Maßnahmen wurden durch Auswertung der Studienlage unterschiedliche Evidenzqualitäten zugewiesen. Man würde nun meinen, dass hohe Empfehlungsgrade hohen Evidenzwerten korrespondieren würden. Doch weit gefehlt. Das Gegenteil ist der Fall:

Reduktion der Schüler*innenzahl in Präsenzunterricht und/oder Kohortierung von Schüler*innen = Qualität der Evidenz: sehr niedrig; Empfehlungsgrad: starke Empfehlung A (Seite 3); Maskentragen bei Schüler*innen, Lehrer*innen und weiterem Schulpersonal = Evidenz niedrig, starke Empfehlung (Seite 5); Maske und Kohortierung auf Schulweg (und Schulbussen) = Evidenz sehr niedrig, starke Empfehlung (S. 7); Quarantäne von engen Kontaktpersonen = Evidenz sehr niedrig, Empfehlung B (S. 13); Regelmäßiges Lüften = Evidenz sehr niedrig, starke Empfehlung (S. 15).

Die Gestalter des Leitfadens wissen – wie sich nachlesen lässt – durchaus um mögliche seelische und körperliche Schädigungen der Kinder (also potenzielle Kindeswohlgefährdungen) durch die Maßnahmen und können hinsichtlich des Nutzens jeder einzelnen Maßnahme nur eine sehr niedrige bis niedrige Evidenz feststellen. Und doch behaupten sie jedes Mal, dass der Nutzen den Schaden überwiegen würde, weil die jeweilige Maßnahme Teil eines Maßnahmenbündels sei, und sprechen eine (meist starke) Empfehlung aus.

Evidenz niedrig – Empfehlung hoch: STIKO zur Covid19-Impfung

Ganz ähnlich die STIKO-Empfehlung zur COVID-19-Impfung. Hier wird als oberstes Ziel der Impfkampagne völlig plausibel Folgendes ausgegeben: „Verhinderung  schwerer  COVID-19-Verläufe  (Hospitalisierung) und Todesfälle.“ Beim RKI heißt es schon etwas weniger ambitioniert: „Das primäre Ziel einer COVID-19-Impfempfehlung für  Deutschland  ist  es,  schwere  Verläufe  und  Tod  durch  COVID-19  größtmöglich  zu  reduzieren.“

Traditionell orientiert sich die STIKO bei der Beurteilung von Impfstoffen betreffend Wirksamkeit/Effektschätzer an vorab bestimmten unterschiedlich gewichteten „Endpunkten“, für deren jeweils relevante Studiendaten dann die „Evidenzqualität“ bewertet wird (siehe: hier). Für die Endpunkte unterscheidet sie auf einer Skala von 1 bis 9: „von begrenzter Bedeutung“ (1–3), „wichtig/important“ (4–6) und „essential/critical“ (7–9); für die Evidenzqualität zwischen „++++ hohe Qualität = der wahre Effekt liegt sehr wahrscheinlich nahe dem Effektschätzer; +++ moderate Qualität = der wahre Effekt liegt wahrscheinlich nahe dem Effektschätzer; ++ niedrige Qualität = der wahre Effekt könnte sich substanziell vom Effektschätzer unterscheiden; + sehr niedrige Qualität = der wahre Effekt ist wahrscheinlich substanziell vom Effektschätzer verschieden“.

Es heißt – wieder völlig plausibel –: „Kritische Endpunkte sind entscheidend für das Level der Gesamtevidenz.“ Daraus würde folgen, dass ein Impfstoff, der hinsichtlich wenig bedeutsamer Endpunkte eine moderate Evidenzqualität und bei kritischen Endpunkten geringe bis sehr geringe Evidenzqualitäten aufweist, in der Gesamtschau durchfällt.

Für die Covid-19-Impfstoffe nun definiert die STIKO die Verhinderung der schweren Erkrankung (Covid-19-Hospitalsierung und Covid-19-bedingter Tod) als „kritischer Endpunkt“, was überzeugt. Darüber, dass sie die Verhinderung von Husten + positiver PCR-Test als „wichtiger Endpunkt“ einstuft, wiewohl „von begrenzter Bedeutung“ naheliegender wäre, ließe sich streiten, ist aber, am Folgenden gemessen, zweitrangig. Denn im Großen und Ganzen befindet sich das Fazit der STIKO-Bewertung der Herstellerstudien durchaus im Einklang mit dem Common Sense:

Zu BioNTech/Pfizer: „BNT162b2: Die Evidenzqualität (Vertrauen in die Effektschätzer) wurde für die Verhinderung von COVID-19-Erkrankungen aufgrund des Verzerrungsrisikos (s. oben) als moderat eingeschätzt; in der Altersgruppe ≥ 75 Jahre aufgrund des weiten Konfidenzintervalls als gering (s. Anhang). Der Endpunkt „schwere  COVID-19-Erkrankung“ wurde als indirekte Evidenz für den von der STIKO zu bewertenden Endpunkt „Hospitalisierung“ verwendet. Hier ergab sich aufgrund der Indirektheit, des weiten 95 Prozent Konfidenzintervalls sowie des Verzerrungsrisikos eine sehr geringe Evidenzqualität.“

Zu Moderna: „mRNA-1273: Die Evidenzqualität (Vertrauen in die Effektschätzer) wurde für die Verhinderung einer COVID-19-Erkrankung aufgrund des Verzerrungsrisikos (s. oben) als moderat eingeschätzt, in der Altersgruppe ≥ 75 Jahre aufgrund des weiten Konfidenzintervalls als gering. Der Endpunkt „schwere COVID-19-Erkrankung“ wurde wie bei BNT162b2 als indirekte Evidenz für den von der STIKO zu bewertenden Endpunkt „Hospitalisierung“ verwendet. Hier ergab sich aufgrund der Indirektheit, des weiten 95%-Konfidenzintervalls sowie des Verzerrungsrisikos eine sehr geringe Evidenzqualität. Für den Endpunkt „Tod durch COVID-19“ wurde die Evidenzqualität aufgrund des Verzerrungsrisikos und der Impräzision des Effektschätzers als gering eingestuft.“

Zu AstraZeneca: „AZD1222:  Für  die  Verhinderung  des  Endpunktes  COVID-19-Erkrankung  wurde  die  Evidenzqualität  aufgrund  des  Verzerrungsrisikos  als  moderat  eingestuft,  für  die  höhere  Altersgruppe  (≥  65  Jahre)  aufgrund von Impräzision (weites 95 % Konfidenzintervall, welches die 0 einschließt) als gering. Aus denselben Gründen wurde auch die Evidenzqualität  für  die  Endpunkte  asymptomatische  Infektion  und Hospitalisierung als gering eingestuft. Für alle Sicherheitsendpunkte  wurde  die  Evidenzqualität  aufgrund des Verzerrungsrisikos und der Tatsache, dass ein großer Anteil der Kontrollgruppe nicht mit Placebo,  sondern   einem   anderen   Impfstoff   (MenACWY) geimpft wurde (Indirektheit hinsichtlich der Vergleichsgruppe), als gering bewertet.“

Deutlicher können Impfstoffe – allein hinsichtlich des Nutzens, d.h. noch ohne Rekurs auf mögliche Schädigungen – kaum durchfallen. Dass sie trotzdem nicht nur zugelassen wurden, sondern gar die Empfehlung zum Durchimpfen (gar nach der Devise: „die Alten zuerst“) ergangen ist, ja, direkter und/oder indirekter Impfzwang auf Basis solchen Resümees öffentlich diskutiert wird – das lässt sich weder medizinisch oder epidemiologisch noch juristisch rechtfertigen.

Irrationalität an allen Fronten

Immer wieder wird die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ festgestellt und damit ein Ausnahmezustand verlängert, der im Westen den größten Angriff auf Freiheitsrechte seit 1945 darstellt, obwohl die staatlichen Behörden RKI und BMG eine solche Lage empirisch nicht belegen können und dies auch offen aussprechen. Vom Lockdown bis zur Impfung kann dem Nutzen keiner freiheitseinschränkenden Anti-Corona-Maßnahme eine höhere wissenschaftliche Evidenzqualität als „niedrig“ zugeschrieben werden – und doch werden sie – ungeachtet möglicher Schädigungen – empfohlen. Es wird nicht einmal versucht, diese Irrationalität, diesen Verlust an Wirklichkeit und Vernunft, zu vertuschen oder zu kaschieren. Es steht vielmehr alles da, spricht sich offen aus, schwarz auf weiß. Das ist das Unheimliche dieser – weniger schleichenden als vielmehr – schrillen Selbstzerstörung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland.