Horst Pankow: Nena leuchtet

ein Gastbeitrag

Hat die Alltagsrealität Dinge hervorgebracht, die zuvor nur in satirischen Darstellungen existierten, werden diese gern als Realsatire bezeichnet. Wenngleich zwar solcherart Benennung wohl häufig Distanz und subjektive Überlegenheit der Betrachtenden zum Ausdruck bringen soll, ist darin meistens doch auch das Element der Überraschheit gegenüber dem meist plötzlichen Eintreten von zuvor zwar als wahrscheinlich, jedoch nicht als zwingend notwendig vermeinten Umständen enthalten. Der Kommentar „Das ist ja Realsatire!“ entweicht den Leuten häufig wie ein Stoßseufzer und verdeutlicht die reale Ausgeliefertheit als bestimmende Dimension der Sache.

Nun kann man getrost die gegenwärtige Inszenierung des Corona-Massenwahns und die Errichtung der deutschen Maskenrepublik als Gestaltung einer gigantischen Realsatire bezeichnen. Auch hier ist die reale Ausgeliefertheit der Betrachtenden deutlich, denn die sogenannten Corona-Maßnahmen greifen hart, ja brutal, in das Leben sowohl von Kritikern als auch Befürwortern ein. Derzeit können nahezu täglich neue Folgen der gespenstischen Aufführung erlebt und ganz banal erlitten werden, hier jedoch soll zunächst an einem konkreten Beispiel das Groteske der Veranstaltung exemplarisch beschrieben werden.

"Das Leben im Jahr 2022"

Ende Juni erschien in Berlin „Der Erreger. Texte gegen die Sterilisierung des Lebens“. Eine 94-seitige Broschüre linksradikaler Provenienz, die vor allem verdeutlicht, dass fundierte und konsequente Kritik an der herrschenden Diktatur die Angelegenheit emanzipatorischer linker Gesellschaftskritik ist und letztere keineswegs tot oder vollständig ins Lager der Affirmation staatlicher Unterdrückung übergelaufen wäre. Nicht zuletzt kann bei der Lektüre von uninformierten und unbefangen Lesern – falls es solche überhaupt noch gibt – festgestellt werden: Auch nach dem Verzicht auf jeden emphatischen Freiheitsbegriff durch die herrschende Politkaste und ihren Apparat wird das Phantom der Freiheit nicht, wie deutsche Polit- und Medienkasper unisono verkünden, von den Monstren staatsbürgerlicher Phantasie wie „Reichsbürger“, „Rechtspopulisten“ und Neonazis lebendig gehalten, sondern ist genuiner Bestandteil linksradikalen Anspruchs auf Emanzipation von Staat und kapitalistischer Ökonomie.

Das Titelblatt des „Erregers“ zeigt ein schon 1962 entstandenes Bild des italienischen Künstlers Walter Molina. Der hauptsächlich als Comiczeichner und Titelseiten-Illustrator der Wochenendbeilage des konservativen „Corriere della Sera“ tätig Gewesene zeichnete sich seit Beginn seiner Karriere 1936 als affirmativer Begleiter der Wendungen italienischer Politik aus und brachte 1962 mit dem jetzt neu veröffentlichten Bild „Das Leben im Jahre 2022“ eine ultraoptimistisch gemeinte Zukunftsvision aufs Papier und in die massenmediale Zirkulation. Das Überraschende ist freilich, dass heute, fast 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung, das Bild seinen Betrachtern eine völlig andere Interpretation nahezu diktiert. Wenn wir inmitten der staatlich verhängten Corona-Finsternis die Molinaschen Figuren auf ihren Einpersonenfahrzeugen mit übergestülpter Glasglocke betrachten, wenn wir sehen, wie sie irgendwie elektrisch (nein, von fossiler Energie zeugen weder Motoren noch Auspuffe) einen Boulevard, gesäumt mit kulturindustriellen Konsumangeboten, entlang flanieren oder wahrscheinlich flaniert werden, dann sind wir genötigt, uns einer Welt der verordneten Abstands- und „Hygiene“-Regeln zu konfrontieren, einer Welt, die der jetzt bekannten vielleicht nur eine Lauterbachsche Kaugummilänge voraus ist.

Titelblatt des „Erregers“ mit dem hier besprochenen Bild von Walter Molino

 

Molinas Personen auf ihren kaum noch seltsamen Fahrzeugen scheinen merkwürdig intakt zu sein, ihre Kleidung entspricht dem Idealstandard ihrer Zeit. Es sind also nicht unsere Zeitgenoss*innen, die wir dort sehen, niemand trägt Joggingklamotten, Spuren von Piercings und Tätowierungen sind auch nicht zu erkennen, keiner scheint mit irgendwelchen Abspiel- oder Übertragungsgeräten verstöpselt zu sein und – kein Maskenmensch weit und breit. Es ist wohl vor allem das Schlafwandlerische ihres Dahingleitens, das diese Menschen eine Distanz von 60 Jahren offenbar mühelos überschreiten lässt, ohne dass man sie für irgendwie digitale Geschöpfe halten würde. Interessanterweise ist ja bisher auch noch kein Stratege des Kampfes „Gemeinsam gegen Corona“ auf die Idee gekommen, den Einsatz sogenannter „Schlafmasken“, die, von den Filmdiven der 1950er Jahre eingeführt, bis heute in manchen lonely bedrooms zur Anwendung kommen, als probates Mittel zur allgemeinen Abwehr visuell-viraler Versuchungen im Alltagsleben zunächst vorzuschlagen und alsbald für alternativlos im heroischen Kampf gegen die 4., 5., 6. und so weiter Welle zu erklären.

Satire und "Realsatire"

So weit die Satire, die hier eine solche nur ist, weil dem naiv-affirmativen Original von 1962 dank redaktioneller Findigkeit der Sprung in eine andere Zeit gelungen ist, deren Spezifika es ermöglichen, plakativen Fortschrittsoptimismus in eine ernüchternde Spiegelung gegenwärtiger und zukünftiger Schrecknisse zu transformieren. Reisen oder gereist werden war tatsächlich einmal zugkräftiger Slogan eines Segments der Reisebranche; er verschwand mit dem Siegeszug des Rollkoffers. Einer der uns heute schmerzhaft fehlt und den sich wohl niemand als zombiehaften Maskenwilly vorstellen kann, der frühgestorbene Wiglaf Droste, hatte sich in seinem späten Werk viel mit dem Rollkoffer beschäftigt. Vor allem der Sound des Rollkoffers beunruhigte ihn. Jene dumpfe Rumpel-Rumpel-Monotonie, die ihre komplementäre Erweiterung in fortschreitender akustischer Vermüllung durch Techno-Belästigung findet, war dem Autor vergeblicher Mahnruf einer unaufhörlich fortschreitenden lebensweltlichen Monotonie. Und auch das macht uns die Leute auf dem 60 Jahre alten Bild Molinos so vetraut und lässt uns spontan schmunzeln: Sie alle wirken so zufrieden, so gleichmütig und schicksalsergeben, als seien sie Statisten in einer performativen Allegorie der Impfwilligkeit. Vielleicht fällt manchen erst jetzt auf, dass keiner dieser Leute mit einem Funktelefon herumfuchtelt. Wozu auch? Nicht nur das wohl von den Elektromotoren der Fahrzeuge erzeugte monotone Dauergeräusch, auch die übergestülpten Glasglocken verhindern neben akustischer Virenübertragung auch die aufgenötigte Ohrenzeugenschaft peinlicher Privat- und Intimgeständnisse. Gleichwohl sind hier und da noch Spuren einstiger Geselligkeit zu erkennen: Eine elegante Dame in einem Pelzmantel (!) wirft einen möglicherweise vielversprechenden Blick über den rechten Bildrand hinaus, ein älterer Herr lüftet grüßend seinen Hut einer Dame im entgegenkommenden Fahrzeug. Kein Betrachter dürfte freilich dem Eindruck wirklicher Kontaktaufnahme erliegen. Diese Dinge sind in der entfalteten Abstand- und Hygienegesellschaft nur noch spielerische Gesten, nutzlose Fragmente einer zunehmend irrealer werdenden Vergangenheit. Ach, das war vor Corona . . .

Jetzt aber zur Realsatire. Die folgenden Beispiele fanden in einem Bereich statt, den Kurt Tucholsky schon 1930 mit historisch Bedeutsamem in Verbindung gebracht hatte: „Wegen ungünstiger Witterung findet die deutsche Revolution in der Musik statt.“ Nun ist bekanntlich „die Musik“ ein weites Feld, besonders seitdem immer mehr „Musiken“ auf den Spielplatz drängen. Im Segment der Unterhaltungs- und Stimmungsmusik, in dem unsere Beispiele angesiedelt sind, geht es aber noch einigermaßen überschaubar zu und Revolution war hier bislang nicht zu erwarten oder besser, nicht zu erwarten gewesen. 

Verordnete Absagen, Zwangsschließungen und Lockdown hatten die Branche der Konzertveranstalter ganz schön darben lassen. So konnte das nicht weitergehen, Bankrotte größten Ausmaßes waren abzusehen, wenn sich nicht bald etwas änderte. Könnte der Staat in seiner Weisheit und Güte nicht hier und da ein paar kleine, und wären es auch die klitzekleinsten, Lockerungen gewähren? Nicht wenige Veranstalter zeigten ihre Bereitschaft mit gutem Beispiel voran zu gehen. Alleruntertänigst machten sie sich daran, dem Souverän sogenannte „Hygienekonzepte“ vorzulegen. Möglichst großer Abstand zwischen den Besuchern schien der zwar nicht mehr goldene, aber vielleicht doch ein wenig versilberte Schlüssel zum Erfolg. Wer nach Sichtung dieser „Konzepte“ glaubte, in einem früheren Leben, vor Corona, einmal etwas vom sozialwissenschaftlichen Konzept der „atomisierten Massen“ gehört zu haben, konnte regelrechte Kernspaltungen befürchten.

Hygienekonzepte für "Musiken"

Ganz so arg sollte es dann doch nicht knallen, aber schon der erste Eindruck der alsbald realisierten Konzepte offenbarte einen tatsächlichen Knaller: Ganz offensichtlich hatten sich Konzertveranstalter bei ihrer Konzept-Kreation von Walter Molinos Bild auf der Titelseite des „Erregers“ inspirieren lassen. Zwar verzichteten sie auf Glasglocken und fahrbare Untersätze (vielleicht sind solche aber längst bei chinesischen Geschäftspartnern in Arbeit), auch finden beim derzeitigen Stand der Entwicklung noch zwei, manchmal sogar drei Personen in einem abgegrenzten Areal Platz, doch sonst deutet alles auf eine schöpferische, d. h. hier realsatirische Ausgestaltung der Molinoschen Vision hin.

Für ein Konzert des „Spaßvogels“ („Tagesspiegel“) Helge Schneider am 23. Juli in Augsburg hatte der Veranstalter Strandkörbe in die bayerische Großstadt schaffen und sie im Halbkreis um die Bühne aufstellen lassen. In denen fanden maximal zwei Personen Platz, gelegentlich sollen es auch drei gewesen sein. Sie bekamen immerhin die Chance, ihre splendid isolation beim reichlich anwesenden Bedienungspersonal durch den Kauf überteuerter Getränke und Süßwaren zu verzuckern. Anders die Besucher eines Konzerts der Sängerin Nena, vom „Tagesspiegel“ jovial zur „Jeanne d’Arc der Luftballons“ ernannt, am 25. Juli bei Berlin. Schon zum Veranstaltungsort, ein vor der südlichen Stadtgrenze Berlins gelegenes Gelände des neu eröffneten Flughafens Berlin-Brandenburg, zu gelangen, dürfte nicht für jeden einfach gewesen sein. Dort einmal angelangt, soll auf die Ankommenden die folgende Freiluftinstallation gewartet haben: „Im Niemannsland hinter dem unbenutzten Terminal 5 haben die Veranstalter … aus 15.000 Coca-Cola-Kisten so genannte ‚Boxen‘ in das Zuschauerareal gebaut, als Platzmakierungen. Man ist stolz auf das Hygienekonzept, das, wie es auf der Homepage heißt, ‚jedem seinen eigenen kleinen VIP-Bereich, seine eigene Box und ausreichend Platz an der frischen Luft‘ garantiert. Innerhalb der etwa 60 Zentimeter hohen Markierungen warten Liegestühle.“ („Tagesspiegel“) Nein, das war keineswegs zynisch gemeint, und als dann der erste Platzregen die vielen „eigenen kleinen VIP-Bereiche“ in schlammige Pfützen mit Platzmarkierungen verwandelt hatte, blieb es wohl zunächst Autoren und Lesern des „Erregers“ vorbehalten, der Glaskuppel-Idee des Walter Molino angemessenen Respekt zu zollen. Doch der Reihe nach, zuerst wollen wir uns die Ereignisse im Augsburger Liegesstuhl-Halbkreis genauer ansehen.

Augsburger Strandkorbgemeinde

Helge Schneider ist ein alter weißer Mann, dem sie Schonzeit gewähren, solange er es schafft, seinem auch nicht mehr ganz jungen Publikum ein Gefühl paternalistischer Überlegenheit zu verschaffen, das geeignet ist, eigene Ängste vor chronischer Vergesslichkeit, zwanghaftem Stammeln und unerklärlichem Zubodenstürzen etc mit Hilfe vorsätzlicher Infantilisierung zumindest provisorisch zu überzuckern. Für diese Leute mag jene Schulleiterin in ihren späten Vierzigern oder frühen Fünfzigern repräsentativ sein, die es sich niemals nehmen lässt, vor versammelten Freunden wie Fremden überschwänglich zu bekennen: „Ach der Helge Schneider, den möchte ich ja immerzu nur sooo knuddeln“ und die man immer wieder spontan warnen möchte: „Pass doch auf, törichtes Mädchen, die Boten des Todes reisen schnell und treffen oft lange vor der Ankunft ihres Meisters ein.“ Für Helge Schneider ist es nachvollziehbar nicht leicht, die Ansprüche solch prätenziöser Klientel, solch hungriger Leute, stets aufs Neue zu befriedigen, und dass er dies immer wieder schafft, rechtfertigt gewiss seinen Status als Künstler.

Und tatsächlich verteidigte der Helge angesichts der Augsburger Groteske seinen Status wie ein Künstler und sprach zu der veganen Schampus und Bionade schlürfenden Strandkorbgemeinde nach nur einer halben Stunde des Vortragens wie ein zorniger junger Mann: „Das geht mir ziemlich auf den Sack. Ich habe langsam keine Lust mehr. Das System ist einfach fadenscheinig und dumm.“ Sackzack, das hatte zwar gesessen, konnte aber nicht ohne Konsequenzen bleiben. „Unrühmlicher Abgang“ tönte der „Tagesspiegel“ und fällte ein Urteil mit bedrohlichem Nachhall: „Steilvorlage für Querdenker und rechte Corona-Verschwörungsanhänger …“. Puh, das konnte gefährlich werden. Dem Helge ging das Herz ein wenig in die Hose, Angst vor eigener Courage war ja schließlich nichts Ehrenrühriges, wenn man den Zorn solch mächtiger Leute auf sich gezogen hatte. Also twitterte er: „Querdenker und Co können ihre Instrumentalisierung stecken lassen“. So, denen hatten er es jetzt auch gegeben, da kann doch keiner mehr denken, dass ich etwa … Na ja, sicher ist sicher, besser den ganzen Schlamassel denen zuschieben, die sowieso die Klappe halten, weil sie sonst rausfliegen, den Scheiß-Prolls. Also schnell noch was Reflektiertes in der dritten Person Singular hinterhergetwittert: „Helge Schneider hat gestern das Konzert abgebrochen, weil die Organisation der Gastronomie vor Ort so war, dass er ständig durch das Gastropersonal, welches an die Plätze serviert hat, abgelenkt wurde.“ Belassen wir’s dabei.

Nun ist Maskendeutschland bekanntlich alles andere als eine Heimstatt der Mutigen. Es ist also überhaupt nicht nötig und niemand würde es erwarten, dass ausgerechnet deutsche Popmusiker als Großmeister der Zivilcourage reüssieren. Keiner würde ernsthaft erwarten, dass sie es dem irischen Blueslyriker Van Morrison gleichtäten, der einen vom Gitarristen Eric Clapton instrumentierten Anti-Masken-Song verfasste. Keiner würde hierzulande die Courage Eric Claptons aufbringen, der die richtige Konsequenz aus den peinigenden Nebenwirkungen der an ihm verübten Corona-Impfung zog: Keine Konzerte mehr in Ländern, in denen Leute, die sich dem politischen und medialen Impfdruck nicht beugen, etwa durch Ausschluss von öffentlichen Veranstaltungen systematisch diskriminiert werden. Das ist heute in Großbritannien der Fall und es wird in Maskendeutschland für die nahe Zukunft angekündigt. Wenn dies hierzulande eintritt, wer von denen, die, anders als es offenbar bei Hunderttausenden von namenlosen Protestierenden möglich ist, von den Massenmedien aufgrund ihrer Prominenz nicht so einfach ignoriert werden können, wird dann ein metaphorisches Aufstehen vorlegen und mit der ganzen, auch heute dem Rock ‘n Roll noch eigenen Energy ein „Nicht in meinem Namen. Nicht mit mir“ in eine maskierte Welt dröhnen?

 

Matsch, Pappe & Regen. Die „Vip-Bereiche“ auf dem Nena-Konzert


Nena leuchtet

Nena wird wohl auf jeden Fall dabei sein. Mr. Wankelmut Schneider sicher nicht; seine Auslassungen zur Augsburger Peinlichkeit können als Marginalien einer bitteren und öden Realsatire abgehakt werden, die ihren Ursprung in der satirischen Neuaneignung des Bildes von Walter Molino durch die „Erreger“-Redaktion nicht wirklich verdient hat. Nena hingegen leuchtet. Nena ist bei dem Konzert am 25. Juli nicht nur mit der Elementarkraft des Regens im Bunde, der die zynisch zu „VIP-Bereichen“ deklarierten Gehege aus Coca-Cola-Kisten als tatsächlich elende Schlammlöcher offenbarte, sondern auch mit einer anderen irgendwie elementaren Kraft, nämlich dem Freiheitsbedürfnis ihrer Fans. Nena ruft: „Holt euch eure Freiheit zurück“ und mein ideologiekritischer Zwilling stößt mir in die Rippen, zischelt übelgelaunt: „Wie sollen die sich denn eine Freiheit zurück holen, die sie niemals hatten?“ Die Fans sehen das anders, jubeln lautstark, umarmen sich, recken die Fäuste, rücken „Freiheit“ schreiend zur Bühne vor. Mein Zwilling zerdrückt wütend eine leere Coladose und schreit jetzt gegen die Menge an, schreit mich an: „Ja fast wie damals. Du hattest die Parole ‚Nehmt euch die Freiheit, sonst kommt sie nie‘ irgendwo aufgeschnappt und ich mußte dir mühsam beibringen, dass das ein solipsistischer spätstirneanischer Bullshit war, du wolltest einfach nicht begreifen, dass ein bürgerliches Subjekt nichts anderes als ein Resultat des Ensembles gesellschaftlicher Kräfte ist und überhaupt nichts zu fordern hat.“ „Überhaupt nichts …?“ „Nein, überhaupt nichts, kommt doch sowieso nur autoritäre Kacke bei raus.“ Damals hatte er mich überzeugt und mein Leben war irgendwie entsprechend verlaufen. Als Nena ruft: „Danke Kassel!“ tippt mir der Nervzwilling auf die Schulter: „Also bevor die Tusse jetzt hier noch mit Heimatkundeunterricht loslegt, gehe ich lieber was trinken. Kommste mit? Ne? Dacht‘ ich mir schon …“. Und weg war er, jedenfalls fürs erste. Bei „Danke Kassel“ geriet die Menge ziemlich aus dem Häuschen, denn alle wussten, dass dort am Tag zuvor mehrere Zehn- bis Hunderttausend gegen die „Corona-Maßnahmen“ demonstriert hatten. Die meisten wussten wohl auch, dass die Anzahl der Demonstrierenden von den Massenmedien auf wenige Tausend reduziert worden war, auch wussten sie wohl jetzt schon, bei der für den kommenden 1. August geplanten Demonstration in Berlin würde eine ähnlich hohe Teilnehmerzahl auf ähnliche Weise herunter gedampft werden.

Nena ist etwa ähnlich alt wie der Schneider und der Verfasser dieses Textes selbst. Und doch ist Nena jung, Nena ist schön, Nena ist geistreich und Nena leuchtet. Die Veranstalter haben ihr Konzert unterbrochen, indem sie ihr den elektrischen Saft abdrehten, wohl gemerkt den elektrischen. So was kann problemlos tun, wer die Macht dazu hat. Aber nur so was eben, meistens erstmal kaum mehr … An jenem 25. Juli traf Nena den Nerv eines entnervten Publikums, das wohl doch nicht so abgestumpft war, wie ich und mein ideologiekritischer Zwilling zuvor ihm unterstellt hatten. Jedenfalls traf sie den Nerv einer Menge Leute, die möglicherweise ähnlich wie ich, und anders als mein Zwilling, durch den gesellschaftlich praktizierten Todestrieb einer Corona-Camarilla, deren verordneten Maskenzwang, deren zuvor nicht relevante, jedenfalls nicht wirkungsmächtige, Kriterien wie infiziert, geimpft und so fort, sich zur Rückbesinnung auf die Erkenntnis des Menschen als einer sozialen Entität, ohne die nichts geht, nichts gehen kann, genötigt sehen. „Ach du arme Scheiße“, meldet sich der ideologiekritische Zwilling zurück, „gehst also über eine Art Post- oder Späthumanismus wieder zu deinen expressionistischen oder, machen wir uns doch gar nichts vor, sogar vitalistischen, Anfängen zurück. Werd‘ ich mal bei entsprechender Gelegenheit den entsprechenden Leuten stecken. Musst dich eigentlich überhaupt nicht wundern, wenn die Antifas dich als Fascho bezeichnen. Könnt‘ ich irgendwie auch …“ Mein Impuls, dem Zwilling eine halbgefüllte Coladose über den Schädel zu ziehen, wurde kurz vor seiner Umsetzung durch das abrupte Verschwinden des Plagegeistes vereitelt und anstelle der Coladose hielt ich nun ein bedrucktes Papier im DIN-A4-Format in der Hand.

Es handelte sich um den Auszug eines sogenannten „Kommentars“ zum Nena-Konzert aus der Online-Ausgabe des „Tagesspiegels“, mit dem sein Autor als Philosoph gewürdigt werden möchte: „Freiheit bedeutet nämlich nicht, zu tun und zu lassen, was man will“, heißt es da, sondern „Freiheit ist vielmehr die Einsicht in die Notwendigkeit, wie Hegel einst sinngemäß schrieb. Und es kann durchaus notwendig sein, für das Wohlergehen und die Freiheit einer Gesellschaft, temporäre Einschränkungen hinzunehmen.“ Wenn wir die allfällige Lüge von den „temporären Einschränkungen“ – wer glaubt derzeit überhaupt noch an so ein Zeug? – einfach ignorieren, den armen Hegel auch „sinngemäß“ mal in Ruhe lassen und auch den autoritären Anspruch eines Primats der Gesellschaft über die Einzelnen als bereits oft und meistens hinreichend kritisiert gefällig übergehen, bleibt doch eine erschreckende Kernaussage: Freiheit ist als solche nicht erkennbar, es sei denn, jemand mit Einsicht in die Notwendigkeit zeigte sie uns. Wer oder was aber soll dieser Zeigende sein und was ist überhaupt Notwendigkeit? George Orwell hat in 1984 diese Fragen dahingehend beantwortet, dass Freiheit in der Notwendigkeit bestehe, zu sagen, zwei und zwei sei fünf, wenn die Partei dies für erforderlich halte. „Die Partei“ also erschafft die Notwendigkeit und erkennt sie zugleich ebenso wie die Partei die Notwendigkeit erkennt und zugleich erschafft und so weiter. Aus diesem Perpetuum Mobile einander wechselseitig generierender Gewissheiten gibt es offenkundig kein Entkommen, es sei denn, die Partei will dies so, sie ist das Subjekt, das den ganzen Kurs umschmeißen kann, auch immer wieder umschmeißen wird, und dennoch oder gerade deshalb von ihrer Gefolgschaft absolute Loyalität erwarten kann, denn schließlich erschafft die Phänome der Welt, wer diese (er-)kennt und erkennt das, was er erschaffen hat. Ein Dazwischen und/oder Daneben gibt es einfach nicht (mehr).

Kauft nicht bei … Verschwörungstheoretikern!

Wer oder was nun für einen einfachen Zeilenschinder des „Tagesspiegels“ oder anderer Qualitätsmedien die kardinale Instanz der „Partei“ darstellt, ist schwer zu beantworten, sowohl von ihm wie von uns. Es liegt selbstverständlich nahe, auf das „automatische Subjekt“ des Wertfetisch‘ zu verweisen und zum xten Mal die Superiorität neo-orthodoxen Marxismus zu belegen. Doch außer der gleichermaßen wahren wie simplen Erkenntnis, dass im Kapitalismus jeder sehen muss, wo er bleibt und am Besten so früh wie möglich sich auf gesinnungsmäßige Flexibilität und Karriereplanung einstellt, kommt dabei auch nicht vielmehr heraus als der Sinn des Sprichworts „Früh krümmt sich, was ein Haken werden will.“ Das ist über den unmittelbaren Anlass hinaus so wenig zufrieden stellend, als würde man einen Pressefuzzy fragen, warum er/sie die Meinung vertrete, in Sachen Corona sei es besser, nicht, wie es traditionellerweise bei Infektionskrankheiten geschieht, die Anzahl der tatsächlich Erkrankten zu erheben und diese so effektiv wie möglich zu behandeln, sondern vielmehr ungewöhnlich große Zahlenmengen von Infizierten zu sammeln und auf diesem Material gesellschafstpolitisch einschneidende Strategien zu entwickeln, die aber nichts mit Krankheitsbekämpfung zu tun hätten oder zu fragen, warum nicht, auch da könnte man sich auf traditionelle medizinische Praxis berufen, statt übereilter, alle bekannten Sicherheitsstandards missachtender Impfentwicklung, nicht auf Erforschung und Produktion antiviraler Arzneien gesetzt werde. Man wird keine reale Antwort bekommen, außer dass man das eben so macht, schließlich fordern Politiker und Wissenschaftler so etwas, auch die Weltgesundheitsorganisation, nur Schurken wie Trump und ein paar Außenseiter haben sich dem bisher verweigert. Kurz: Milliarden Fliegen fressen Scheiße, also muss Scheiße auch irgendwie bekömmlich sein, sonst würden die Viecher sie ja nicht fressen. Und so weiter …

Auffällig ist die zunehmende Drohung mit und die Umsetzung von physischer Gewalt durch Vertreter des Corona-Staates. Die Abschaffung bürgerlicher Freiheitsrechte quasi durch einen feudal-obrigkeitlichen Federstrich mag für manche Politikgläubige noch eine irgendwie angemessene Lehre gewesen sein, so „unveräußerlich“ sind von einem Souverän ausgeteilte Erlaubnisse wohl nicht und so zahm und zivilisiert wie geglaubt ist die „Staatsbestie“ (Erich Mühsam) erst recht nicht. Alles weitere ist dann vor allem bedrohlich. 


Die bekundete Absicht, Polizei und Geheimdienste gegen Corona-Ungläubige einzusetzen, macht Angst, viehische Prügeleinsätze einer enthemmten Polizei-Soldateska wie am 1. August in Berlin erzeugen Horror nicht nur bei den Schwachen. Die Realsatire mit ihren zwangsläufig dilettantischen und grotesken Zügen wandelt sich sukzessive in eine Perfektion erheischende Schreckensherrschaft. Diese Entwicklung wird auch von der Presse nach Kräften befördert.

In der Woche nach den oben geschilderten Musik-Veranstaltungen forderte die Online-Ausgabe des „Tagesspiegels“ ihre Leser auf, die folgende Frage mittels einer differenzierten Bestätigungs-Vorgabe zu beantworten: „Finden Sie es richtig oder falsch, Kunst und Produkte von Prominenten zu boykottieren, die sogenannte Verschwörungstheorien verbreiten?“ Gegen Ende der Woche, als ich das Zeug sichtete, lagen die folgenden Ergebnisse vor: Eindeutig richtig 52,6%, Eher richtig 12,4%, Unentschieden 8,0%, Eher falsch 8,4%, Eindeutig falsch 18,6%. Demnach befürwortet eine satte Mehrheit von 65% solcherart Maßnahmen. Die Zahlen dürften aber im weiteren Verlauf der Befragung noch gestiegen sein. Wer behauptete eigentlich, niemand könne unter den rechtsstaatlichen Bedingungen einer parlamentarischen Demokratie Pogrome auf die Beine stellen? Aber ja, differenziert betrachtet stellt die Erhebung einer Pogromstimmung noch keine Anstiftung zum Pogrom dar und die Anstiftung noch keine Organisierung, noch keine Ausführung. Ach, wie differenziert können wir doch sein.

In der Konsequenz lauten Frage und und mehrheitliche Antworten exakt „Deutsche wehrt euch. Kauft nicht bei … Verschwörungstheoretikern.“ Das kommt bekannt vor und irgendeine Antifa-Dumpfbacke freut sich schon darauf, dem Pankow was wegen Relativierung oder gar Gleichsetzung reinzuwürgen. Doch blinder Eifer schadet nur, vor allem, wenn es um Erkenntnis geht. Die zitierte Parole wurde von den Nationalsozialisten 1933 beim sogenannten „April-Boykott“ verwendet, als SA-Leute gemeinsam mit zivilen Deutschen jüdische Geschäfte angriffen und teilweise plünderten; zu einer Zeit also, als auch die Nazi-Führer noch nicht wussten, wo Auschwitz liegt und was ihre arischen Untertanen dort einmal tun würden. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Zeit nach den Übergriffen von Bedeutung. Denn kaum waren Scherben und Trümmer notdürftig beiseite geräumt, erschienen vielerorts junge Leute vor den zuvor angegriffenen Geschäften. Manche schleppten diese schönen großen Antik-Kameras, jedes Stativ fast wie eine Staffelei, und diese alten Kobalt-Blitzlichte, wie die knallten und zischten. Andere wieder hatten ein dickes, sorgfältig gebundenes Notizbuch in der einen und einen schönen dicken Bleistift in der anderen Hand. Die jungen Frauen und Männer waren von den Lokalredaktionen deutscher Zeitungen oder von Regional- und Lokalblättern geschickt worden. Ihr Auftrag war so einfach wie eindeutig: Feststellen, welche Deutschen es nach allgemeiner Bekanntgabe der eindeutig formulierten Boykott-Ziele immer noch wagten, bei Juden zu kaufen. Die Festgestellten wurden fotographiert, ihre Personalien notiert und das Material zumeist ohne weitere Kommentierung in einer der kommenden Ausgaben veröffentlicht. Die Leser wussten sehr genau, was nun von ihnen erwartet wurde. Ja, so geht das.

So weit erstmal & bis auf Weiteres. 

Berlin, 05.08.2021

[Weitere Texte von Horst Pankow zur Corona-Krise findet man auf den Seiten des MAGAZIN]

[Der angesprochene "Erreger" kann via dererreger@posteo.de für 5€ bestellt werden.]