Corona und die Orientalisierung des Westens

Es hat in Deutschland im Jahr 2020 zu keinem Zeitpunkt eine „epidemische Lage nationaler Tragweite“ auch nur gedroht. Das belegen nicht irgendwelche alternative Fakten, das spricht aus den Datensätzen der obersten Seuchenschutzbehörde, Robert Koch Institut (RKI), selbst. Die Veröffentlichungen der Krankenkassen zum allgemeinen Krankenstand, des Bundesamts für Statistik zum Sterbegeschehen und z.B. der Initiative für Qualitätsmedizin zu Krankenhausaufenthalten (inkl. Intensivstationen)  bestätigen es. Alle belastbaren Parameter zur Beurteilung der Gefährlichkeit einer Atemwegserkrankungswelle sprechen von Beginn an für Entwarnung.

Zwar ist es schon unverhältnismäßig, und damit verfassungswidrig, angesichts eines grippeähnlichen Erregers in den Ausnahmezustand eskaliert zu haben. Der (auch juristisch) entscheidende Punkt liegt aber woanders. Sogar Kritiker der herrschenden Corona-Maßnahmen äußern nämlich bisweilen immer noch Verständnis dafür, dass der Staat aufgrund einer damaligen (angeblichen) „Unübersichtlichkeit“ und „Unwissenheit“ im März „überreagiert“ habe, und werfen ihm daher lediglich das Ausbleiben einer nachträglichen Selbstkorrektur vor.

Der Sündenfall

Dagegen wäre – gewissermaßen dogmatisch und unversöhnlich – auf zwei Grundsätzen (bürgerlichen Rechts) zu beharren.

Erstens: Je drakonischer die Maßnahmen Grundrechte suspendieren, desto mehr hätten sie sich positiv begründen müssen. Es gab damals aber keinen einzigen empirischen Datensatz, der auch nur nahegelegt hätte, dass Corona gefährlicher sei als Influenza. Es gab eine mediale Sensationsberichterstattung („Bilder aus Bergamo“), die sich leicht relativieren lässt (vgl. hier). Und es gab mathematische Modulationen eines Worst Case Szenarios bei ausbleibenden China-Maßnahmen, deren Hauptvoraussetzungen (keine Vorimmunität, keine Saisonalität, symptomlose Übertragung, hohe Letalitätsrate, hoher R-Wert) erstunken und erlogen und damit nie wahrscheinlich oder realistisch und, als sie am 16.3. (Imperial College) bzw. 20. März (RKI) erschienen, schon längst widerlegt waren. Bei unaufgeregter und nüchterner Betrachtung sprachen sämtliche empirische Daten aus China, Italien und von der Diamond Princess für eine im schlimmsten Fall schwere Grippewelle, wie es beispielsweise am 16. März Hendrik Streek im FAZ-Interview und am 17. März John Ioannidis ganz klar (vorher-)gesehen haben – und sehen mussten, weil es für anderslautende Expertenmeinungen schlicht überhaupt keine Evidenz – sondern bloß schwache Konjunktive („es ist nicht auszuschließen, dass…“) und Präventionsfetische („Better save than sorry“) – gegeben hat.

Zweitens: Selbst wenn im März tatsächlich eine gefährliche Epidemie gedroht hätte (die bürgerlichen Gesetzgeber dachten beim Seuchenschutz an so etwas wie die Spanische Grippe), selbst wenn es wahrscheinlich gewesen wäre, dass ihr in einem Jahr z.B. eine Millionen Deutsche zum Opfer fallen würden, selbst für den Fall hatten westliche Gesellschaften jahrzehntelang als Ultima Ratio staatlicher Intervention lediglich die an hohe Nachweishürden gebundene Zwangsisolation ansteckend Erkrankter vorgesehen, während alles weitere in der Eigenverantwortung gesunder Bürger gelegen hätte, etwa, welche Handlungseinschränkungen sie sich auferlegen, um sich selbst zu schützen. (Selbstverständlich wäre, ein Gesundheitssystem nötigenfalls per Gehaltserhöhung, Personal- und Materialaufstockung auf Vordermann zu bringen, Sache des Staates und keine Frage von Bürgerrechtsverletzungen gewesen.)

Die Schließung von Schulen, Universitäten, Geschäften und gastronomischen Betrieben, das durchgehaltene Verbot von Großveranstaltungen, die präventive Isolationshaft der Alten und Schwachen in den Pflegeheimen, eine allgemeine Maskenpflicht und verordnete soziale Distanzierung bis hin zur Ausgangssperre sind in der westlichen epidemiologischen und juristischen Literatur bis 2020 nie erwogen worden. Das eine ist, dass es laut einer WHO-Studie von 2019 nicht einmal eine wissenschaftliche Evidenz für die Zweckdienlichkeit autoritärer Maßnahmen zur Epidemiebekämpfung gab. Das andere ist, dass sich derartige Maßnahmen selbst bei nachgewiesenem Nutzen und unabhängig von ihren offensichtlichen und gravierenden Kollateralschäden für die Ökonomie und die Gesundheit in einer bürgerlichen Gesellschaft kategorisch verbieten, weil ihre höchsten Güter nicht abstraktes Leben und abstrakte Gesundheit, sondern die Würde und die Freiheit des Einzelnen sind.

Sie wissen, was sie tun

Im Unterschied zu manchem zahnlosen Kritiker wissen die Akteure und Befürworter der herrschenden Corona-Politik ganz genau, in welchem Ausmaß im Februar/März 2020 eine historische Zäsur stattgefunden hat, in deren Zuge die meisten bürgerlichen Gesellschaften (Schweden z.B. weitgehend ausgenommen) ohne Not mit ihren westlichen Kodizes, mit zentralen Errungenschaften der Zivilisation gebrochen haben.

Schließlich war es bis zu einem Kipp-Moment im Frühjahr 2020 schier ausgeschlossen und undenkbar, dass sich westliche Gesellschaften vollkommen kritiklos bzw. unter Ausschaltung jedweder kritischer Stimmen politisch (nichtpharmazeutische Maßnahmen) und medizinisch (Intubation, Medikamenten-Experimente) am angeblich erfolgreichen Modell des totalitären China orientieren würden – die entsprechenden unsäglichen WHO-Empfehlungen und -Protokolle hin oder her. Dabei ist nicht entscheidend, dass der chinesische Erfolg blanke Propaganda ohne Wirklichkeitsbezug war: Die Epidemie endete in China, weil Erkältungswellen aufgrund von Selbstlimitierung, Saisonalität und Vorimmunität stets von allein enden und China seit diesem Zeitpunkt nicht mehr testete bzw. strengere Tests einsetzte, nicht also wegen der Maßnahmen. Das Entscheidende ist der bürgerliche Selbstverrat, der von den China-Fans ganz offen als solcher bejubelt wird.

Der Szenarien-Modellierer vom chinafreundlichen Imperial College, Neil M. Ferguson, der britischen Institutionen wie der Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE) seit jeher, wenn auch meist erfolglos, drastische Maßnahmen empfahl, reflektiert das unverhoffte Gelingen vom März 2020, China zu imitieren, im Dezember rückblickend so

„Ich glaube, das Gefühl der Leute, was in Bezug auf die Kontrolle möglich ist, hat sich zwischen Januar und März ziemlich dramatisch verändert... Es ist ein kommunistischer Einparteienstaat, sagten wir. Wir dachten, wir könnten damit in Europa nicht durchkommen... Und dann hat Italien es getan. Und wir erkannten, dass wir es können... Wenn China es nicht getan hätte, wäre das Jahr ganz anders verlaufen.“

Kategorisch nützt es nichts gegen Viren, wenn Gesunde sich maskieren. Die psychotische Angst vor Aerosolen legitimiert nicht den entwürdigenden Angriff aufs „menschliche Antlitz“ und auf befreites Atmen. Die beklemmende Uniformierung westlicher Bürger zu Mitgliedern asiatischer Ameisenstaaten, die Ausweitung islamischer Verhüllung, die "nur" die weibliche Sexualität verstümmelt, auf jede Leiblichkeit ist unakzeptabel und schon als Anblick einem zivilisierten Menschen nicht zuzumuten. Es gehört sich nicht, Alte und Geschwächte von ihren Angehörigen zu isolieren und sie bei Husten zu Tode zu intubieren. Es gehört sich nicht, Kindern einzureden, sie seien als solche schon potentielle Todbringer ihrer Großeltern. Es gehört sich nicht, die ökonomische Existenz von Millionen von Menschen zu gefährden und Kritiker dieser Politik als Mörder zu beschimpfen. Desinfektions-Experten wie Drosten, Wieler, Ferguson oder Viola Priesemann und Greta Thunberg gehören an die Seite orientalischer Despoten, von einer bürgerlichen Öffentlichkeit hätten sie und ihre Vorschläge zur Hygiene und Sterilisierung des öffentlichen Raums schallend ausgelacht werden müssen. Nur, weil das Selbstverständliche nicht geschehen ist, muckt die Lauterbach-Linke um Leo-Titanic-Fischer, Torsun-Egotronic-Burkhard, Luisa-Klimakröte-Neubauer, Margarete-Schnatterinchen-Stokowski, Hengameh-Sternchen-Yaghoobifarah und Altmarxisten wie Frigga und Wolfgang Haug heute auf, um von der Regierung noch mehr China, und damit die endgültige Barbarisierung des sozialen Lebens zu fordern.

Es reicht!

Menschen sterben, Menschen werden krank und immer mehr von ihnen zelebrieren das Kränkeln. Es gibt Lebensrisiken, die mal höher, die mal niedriger sind. Winterliche Erkältungswellen rechtfertigen es nicht, der Volksgemeinschaft der Hypochonder und Neurotiker auszuliefern,  was eine bürgerliche Gesellschaft substantiell als solche ausmacht, und für deren Errichtung und Verteidigung in der Vergangenheit in der Tat viele Menschen gestorben sind. Grundrechte sind Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat. Es ist Aufgabe von Richtern und Staatsanwälten, das Grundgesetz zu schützen, notfalls gegen die Regierung, notfalls gegen die (angebliche) Mehrheit einer in Panik versetzten Bevölkerung, weil über die Geltung von Grundrechten nicht pluralistisch abgestimmt wird. Der Kern einer bürgerlichen Demokratie sind nicht Mehrheitsentscheidungen, es sind die unverbrüchlichen Individualrechte. Das alles mag rechtspositivistisch, -idealistisch und naiv sein. Aber abgesehen von vermehrten Akten zivilen Ungehorsams bleibt den Freiheitsliebenden nicht viel mehr als diese Hoffnung in eine aus dem Dornröschenschlaf des Lockdown endlich erwachende Justiz – jedenfalls, solange es „friedlich“ bleiben soll.

Wenn Markus Söder indes – zum jetzigen Zeitpunkt völlig unrealistisch – von gewaltbereiten Querdenkern und einer Radikalisierung der Maßnahmenkritiker fantasiert, so lässt sich dies als schlechtes Gewissen eines Verbrechers deuten, der die Gesetze kennt und unter den Zwang geraten ist, permanent neue Rechtsbrüche zu begehen, um die juristische Aufklärung der vorangegangenen zu hintertreiben. Es ist, als fürchtete Söder das grundgesetzlich verbürgte Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen (Artikel 20, Abs. 4 GG).

„Das Recht zum Widerstand richtet sich vor allem gegen staatliche Organe selber, die versuchen, durch politische Entscheidungen (Gesetze, Maßnahmen) die gegebene Verfassungsordnung außer Kraft zu setzen, zu beseitigen oder umzustürzen […]. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass staatliche Organe sich durchaus verfassungswidrig verhalten können, selbst wenn sie durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes handeln (wie es zum Beispiel die Nationalsozialisten zu Beginn ihrer faschistischen Gewaltherrschaft 1933 bei der Machtergreifung praktiziert hatten).“ (Wikipedia)

Die Vorstellung, dass sich mit Bezugnahme auf GG 20.4 bewaffnete Widerstandsgruppen bilden könnten, ist zwar augenblicklich weit hergeholt, aber ein bisschen tröstet es vielleicht, dass die Zerstörer der bürgerlichen Ordnung wenigstens schlecht schlafen und offensichtlich von derartigen Alpträumen heimgesucht werden.

Das Problem ist also nicht nur, dass nach bald einem Jahr Corona-Politik alle Maßstäbe abhandengekommen sind, um künftig die Pest wieder von einem popeligen Schnupfen unterscheiden zu können, sondern jedes Bewusstsein dafür verschwunden ist, dass Grundrechte erst dann etwas wert sind, wenn selbst eine echte Pest sie nicht mal eben zu suspendieren vermag.

(20.01.2021)

Nachtrag vom 21.01.2021

Heute wurde ein Urteil vom Amtsgericht Weimar veröffentlicht, das sehr weitgehend im Sinne dieses Artikels und vieler vorangegangener (auch anderer Maßnahmen-Kritiker seit März) entschieden hat.